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Vergessener Bruder  

Kurz nachdem er seine erleichterten Worte von seinen ausgetrockneten Lippen ließ, drückte die Krankenschwester, die sich neben ihm befand, auf einen Knopf. Er befürchtete, dass Ärzte herbeigerufen wurden, um seinen Zustand zu überprüfen. Doch während sie auf sie warteten, schien sie einen Art Lappen über ihm zu streichen. Es war ein angenehm erfrischendes Gefühl, und danach fühlte er sich, als hätte er gerade eine erfrischende Dusche genommen und neue Kleidung angezogen. Doch warum reinigte sie nur seinen Oberkörper, fragte er sich.

 

Kaidens Haut fing an, sich vor Schauer zusammenzuziehen. Ein unangenehmes Gefühl durchflutete seinen ganzen Körper. Aber er spürte sie doch, warum also reinigt sie diese nicht? Kaiden entschloss sich zu fragen. Bevor die Antwort kam, schluckte er noch einmal, um sich auf das Schlimmste vorzubereiten.

 

Die Antwort auf seine Frage lautete: „Sie sind nicht mehr vorhanden." Als Kaiden dies realisierte, bemerkte er auch, dass sich nur ein Auge von ihm öffnete. Unter all dem Stress konnte er wohl doch nicht klar denken. „Und was ist mit meinem linken Auge?"

 

„Das ist leider auch nicht mehr vorhanden," antwortete die Schwester. Auch wenn ihre Stimme noch so beruhigend und schön klang, konnte er diese Worte nicht gutheißen. Daraufhin fuhr sie fort und zählte alles auf, was mit ihm passiert war.

 

Kaiden hatte seinen rechten Arm verloren, da dieser aufgrund des Mangels an Blutversorgung amputiert werden musste. Sein Auge wurde erstochen, und ein langer Ast hatte ihn getroffen. Er hatte alleine schon Glück gehabt, dass es nicht bis ins Gehirn gelangt war. Seine Beine waren zwar an seinem Oberkörper verbunden, allerdings völlig zerbrochen.

 

Wortwörtlich, jeder Knochen war zertrümmert, und aus jedem Eck ragten Knochen heraus, weshalb diese ebenfalls nicht zu retten waren. Dazu kamen noch unzählige Schnittwunden, und sein ganzer Körper war ein Friedhof aus Narben. Hinzu kam, dass seine Rippen und einige Wirbel gebrochen waren. Diese Verletzungen waren jedoch die harmlosesten und konnten mit künstlichen Stangen stabilisiert und verstärkt werden.

 

Kaiden konnte es nicht fassen. Er war nun quasi für nichts zu gebrauchen. Doch die Schwester schien ihn zu beruhigen. Es gab nämlich noch Hoffnung auf Besserung. Mit der heutigen Technologie könnten Prothesen wie echte Glieder gesteuert werden.

 

„Das weiß ich auch," erwiderte Kaiden mit entsetzter und zitternder Stimme. „Ja, verdammt, das weiß ich auch. Aber woher soll ich das Geld verdammt nochmal auftreiben?" Kaiden fühlte sich erbärmlich. Er lag da, ohne sich zu rühren, und schrie eine Krankenschwester an, die nur ihre Arbeit machen und helfen wollte.

 

Kurz darauf hörte Kaiden schwere und laute Schritte, die von einem großen, alten Mann in einem weißen Kittel verursacht wurden. Er schien einen ernsten Blick zu haben und verzog keine Miene. Seine gekonnten, langen Schritte waren zwar laut, aber gleichzeitig beruhigend. Er öffnete seinen Mund und war kurz davor, etwas zu sagen, als er seine Tasse mit qualmendem Rauch auf einen kleinen Beistelltisch stellte.

 

Er sagte, dass er für einen fast toten Mann eine erstaunlich laute Stimme hatte.

Hinterher sagte er auch noch zu Kaiden, als wäre es ein gut gemeinter Rat, dass er dankbar sein sollte. Der Arzt sprach zu Kaiden mit rauer und tiefer Stimme, dass er echt dankbar sein sollte. Wäre das Rettungsteam nur um eine Sekunde zu spät gekommen oder hätte dich im Wasser übersehen, dann würde er diesen besonderen Tag nicht erleben. Kaiden schluckte wieder und schien keinen Laut von sich zu geben.

 

Der Arzt fuhr fort und fragte nach den Vitalzeichen. Er schaute selbst auf den Bildschirm, der sich links von Kaiden befand. Die Schwester teilte mit, dass sein Blutdruck bei 125/80 mmHg lag, er einen Puls von etwa 80 Herzschlägen pro Minute hatte, eine Körpertemperatur von 38 Grad aufwies und etwa 15 Atemzüge pro Minute hatte. Das Einzige, was besorgniserregend war, war das Blut in seinem Auge; die restlichen Tests würden später durchgeführt.

 

Der Arzt schaute von der Schwester zu ihm zurück und sagte, dass sich sein Zustand verbessern würde. Er griff wieder nach seiner Tasse und wollte gerade gehen, blieb jedoch wieder stehen und fügte hinzu, dass sie ihn für ein MRT vorbereiten sollten. Dann ging er fort, und seine großen Schritte füllten den Raum mit einem ungewohnten Klang.

 

Als er nun weg war, sagte die Schwester, dass er nicht so streng mit sich selbst sein sollte. Sie lächelte Kaiden an und meinte, dass er nun zumindest am Leben sei und das das Einzige sei, was zählen sollte. Kaiden verstand dies und versuchte ab diesem Moment, seine Gedanken ebenfalls ins Positive zu lenken.

 

Doch unter all dem Stress schien Kaiden etwas Wichtiges vergessen zu haben: seine Familie. Zwar hatte er keine Eltern, aber sein großer Bruder kümmerte sich seit ihrer Kindheit um ihn. Er fragte die Schwester, wo sein Bruder sei. Die Schwester erklärte, dass sie kurz weggehen müsse, um in den Unterlagen nachzusehen, da sein Bruder wahrscheinlich die Rechnungen für die Genesung aus eigener Tasche zahlen würde.

 

Ab diesem Zeitpunkt rutschte Kaiden das Herz wieder in die Hose. Wie viele Schulden werden wir denn dann haben? Sein Bruder musste wahrscheinlich einen riesigen Kredit aufgenommen haben, wahrscheinlich von mehreren Hunderttausenden. Verdammt, verdammt! Wir waren doch gerade erst ins eigentliche Leben gestartet, und nun müssen wir mit einem Haufen Schulden klarkommen.

 

Das kann einfach nicht sein. Kaiden hörte ein Klicken, als die Türklinke aus Aluminium nach unten gedrückt wurde. Die Tür öffnete sich nun nach innen, und die Schwester betrat den Raum mit sanften und leisen Schritten, das komplette Gegenteil vom alten Knacker. In ihren Händen trug sie einen Umschlag aus dünnem Stoff, gefüllt mit mehreren Utensilien und Dokumenten. Sie blätterte darin, bis sie die Daten der Familie Lain fand.

 

„Der Name ist Lain, und der Vorname ist Arthur, richtig?" fragte sie. Kaiden antwortete ihrer Frage mit einem knappen „Ja." Kaiden lag erschüttert und regungslos da, ohne jegliche Emotion, und wartete nur auf die zarte Stimme der Schwester.

 

Und dann sprach sie wieder. „Dein Bruder, Arthur Lain, ist eh… nicht mehr in dieser Welt." Kaidens Herz blieb stehen, und Trauer überfiel sein emotionsloses Auge. Er wurde so sehr von Wut und Trauer mitgerissen, dass er drohte, alles in diesem Raum zu zerstören. Er war so aufgewühlt, dass er es sogar schaffte, seine Hand, die er bis eben keinen Millimeter bewegt hatte, zu einer leichten Faust zu ballen. Er war kurz davor, seine ausgetrockneten Lippen mit seinen Zähnen zu zerreißen.

 

Die Schwester fuhr währenddessen fort, bemerkte jedoch ihren Fehler. Sie schrie sofort mit nicht zu lauter Stimme, dass er nicht tot wäre, sondern noch am Leben. Kaidens Wut und Trauer wandelten sich langsam zurück, blieben aber immer noch präsent. Einige Tränen flossen über seine Wangenknochen, und Blutflecken schienen auf seinen Lippen zurückzubleiben.

 

Kaiden, der entsetzt da lag, fragte die Schwester verwirrt, was sie damit meine. Die Schwester hatte nämlich etwas sehr Wichtiges vergessen und fuhr fort.

 

„Du hast es ja mit deinem eigenen Körper erlebt. Du hast wahrscheinlich die riesige Atombombe und deren Auswirkungen gesehen, gefolgt von diesem Tsunami, richtig?" Kaiden bestätigte dies und wollte, dass sie fortfährt. Dies tat sie auch.

 

„Die Hinter Geschichte kennst du allerdings nicht. Denn die Atombombe war nicht von uns Menschen verursacht. Ganz im Gegenteil, es war ein natürliches Ereignis, welches die Menschheit in vieler Hinsicht völlig revolutionierte und neue Möglichkeiten mit sich brachte."

 

„Eine neue Welt wurde kreiert."